Auszug aus der Rede von
Heinz-Joachim Otto, 09.11.2014
Vorsitzender der Bürgermeister- Harzer-Stiftung
www.bmh-stiftung.de
Ein freudiges Datum war der 9. November 1989 für die Deutschen. An diesem Tag (heute vor 25 Jahren) fiel die Berliner Mauer, ein Jahr später war Deutschland wiedervereinigt. Ohne einen Schuss – ohne einen Toten.
Der 9. November 1938 gehört dagegen zu den dunkelsten Kapiteln der deutschen Geschichte. In der „Reichspogromnacht“ brannten jüdische Geschäfte und Synagogen, wurden Menschen gequält und ermordet – auch hier in Lünen. Das Pogrom steht für den Antisemitismus in Deutschland und den Wandel hin zu einer Entwicklung, die in einer „Endlösung der Judenfrage“ im Sinne der Ermordung der europäischen Juden im deutschen Machtbereich mündete.
Am 9. November 1923 scheiterte der „Hitlerputsch“ in München, dessen Ziel die „nationale Revolution“, d.h. die Absetzung der Bayerischen Regierung und der Reichregierung war.
Fünf Jahre zuvor rief Philipp Scheidemann am 9. November 1918 die erste Deutsche Republik aus. Die sog. „Novemberrevolution“ 1918 führte das Deutsche Reich von einer konstitutionellen Monarchie in eine parlamentarisch-demokratische Republik.
Welche wechselvolle Geschichte im Zeitraum eines Menschenlebens von gut 70 Jahren !! (…)
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schülerinnen und Schüler,
ich habe die große Hoffnung, dass wir alle und gerade die jüngere Generation aus unserer Geschichte die richtigen Lehren ziehen und immun sind gegen rechtsradikale, fremdenfeindliche und antisemitische Tendenzen. Und dass wir uns mutig derartigen Umtrieben heute und in Zukunft in den Weg stellen. Viele Lüner Schulen widmen sich diesen Themen offensichtlich sehr intensiv und sind als „Schule gegen Rassismus“ besonders ausgezeichnet. Auch dafür allen Engagierten Dank! Gerade allerjüngste Entwicklungen zeigen, dass auch der demokratische Rechtsstaat seine Wehrhaftigkeit gegen Neonazis und andere Gegner der Demokratie nicht vernachlässigen darf sondern seine Wachsamkeit schärft und seine strafrechtlichen Mittel wirkungsvoll einsetzt.
Dann können – so hoffe ich – Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religion, Hautfarbe, sexueller Orientierung friedlich in unserer Stadt zusammen leben. Und niemand sollte mehr Angst haben vor einem Mob, wie er sich auch in Lünen vor gut 75 Jahren austoben konnte an einem Tag wie dem 09.11.1938.
Ich danke Ihnen für Ihre Geduld und Aufmerksamkeit.
Auszug aus der Rede von
Martin Loer, 9.11.2015
Religionslehrer am FSG Lünen
Immer wieder höre ich als Lehrer von meinen Schülern die Frage: Warum haben damals am 9.11.38, so viele Menschen in Lünen die Rollläden runtergelassen als ihre Mitbürger jüdischen Glaubens ermordet, als ihr Gotteshaus, die Synagoge in der absoluten Nähe der christlichen Kirche entehrt und schließlich auch die Gebeine der Toten auf dem jüdischen Friedhof an der Münsterstraße brutal geschändet wurden?
Heute haben die Schülerinnen und Schüler rund um die Lippebrücke eine Denk-Nach-Aktion zur Problematik des „Weg-Schauens“ gestaltet.
Ich glaube, meinen Schülerinnen und Schülern wurde im Laufe ihres Projektes deutlich, dass auch in der Gegenwart Weg-Schauen und Weg-Ducken eine große Gefahr darstellt.
Und wir wünschen uns und hoffen, dass viele der Menschen, die ihnen heute zugeschaut haben, diese Gefahr genauso spüren und nicht wegschauen oder sich wegducken, wie es am 9.11.1938 eben passierte.
Gegen das Vergessen: Aus der Vergangenheit für die Gegenwart lernen.
Auch angesichts unserer gemeinsamen Zusammenkunft wird an dieser Stelle des Lippeufers deutlich, dass sich ein ehemals finsterer Ort mit brutalem menschlichen Verhalten in einen hellen Ort der Erinnerung, des Gedenkens und der Hoffnung entwickeln kann.
Wenn sich aber ein Redner in Deutschland ca. vor 3 Wochen hinstellt und seinen 15.000 Zuhörern im Blick auf die handelnden Politiker in Deutschland ausruft: „Die KZs sind leider schon außer Betrieb“, so bin ich fassungslos und wütend zugleich.
Ich möchte daher heute Abend an dieser Stelle einen Menschen jüdischen Glaubens zitieren.
Viktor Frankl (in seinem Buch »Der Mensch und die Frage nach dem Sinn«) formuliert aus seiner Sicht einen ultimativen Anspruch an uns Pädagogen und Lehrer:
»Ich bin Überlebender eines Konzentrationslagers.
Meine Augen haben gesehen, was kein Mensch als Zeuge hatte sehen sollen:
Gaskammern, die von ausgebildeten Ingenieuren erbaut wurden;
Kinder, die von ausgebildeten Ärzten vergiftet wurden;
Kinder, die von ausgebildeten Krankenschwestern getötet wurden;
Frauen und Babys, die von Hochschulabsolventen erschossen wurden.
Deshalb bin ich misstrauisch gegenüber jeglicher Art von Ausbildung.
Ich fordere die Lehrer auf: Helfen Sie Ihren Schülern, menschlich zu sein.
(…)
Lesen, Schreiben, Rechtschreibung und Mathematik sind nur wichtig,
wenn die Schüler dadurch menschlicher werden.«